Vortrag von Eduard Volk, Neuwied
Gehalten am 13. 03. 2016 in Urmitz am Rhein
auf der Jahreshauptversammlung des Bessarabiendeutschen Vereins, Landesgruppe Rheinland-Pfalz
Der Ort Orschekowin in Polen spielte eine wichtige Rolle in der Geschichte der Kolonie Krasna, eine von 24 deutschen Mutterkolonien in Bessarabien1).
Viele Krasnaer nannten Orschekowin als Ort der Herkunft ihrer Vorfahren aus dem Herzogtum Warschau2), die auf Einladung des Zaren 1814 nach Südrußland gezogen waren.
In dem Krasnaer Gemeindebericht von 18483), den der Lehrer Kaspar Matery geschrieben hat, heißt es: „ …. Dem Rufe des Zaren folgend verließen die genannten Ansiedler – 133 Familien in armen und drückenden Umständen, aber mit Freuden einer besseren Zukunft entgegensehend ihre polnischen Ansiedlungen Orschokowin und Schitonitz 1814 unter der Anführung des Mattheis Müller und Peter Becker teils auf eigenen ärmlichen Fuhrwerken, teils auf gemieteten Wagen.“
Es sind in der Vergangenheit mehrfach Versuche unternommen worden, die Orte Orschokowin und Schitonitz ausfindig zu machen. Aber vergeblich. So schreibt Florian Müller in seinem Buch über die Dobrutscha schon 19814): „… ist wenig Hoffnung, daß man die Auswanderungs-Ortschaften in Polen finden wird, weil die Ortsnamen Orschokowin und Schitonitz heute nicht mehr existieren….“. Wie sich heute zeigt, war diese Ansicht nicht richtig: Wo Schitonitz ist, wissen wir schon seit einiger Zeit5) und wo Orschekowin liegt, will ich jetzt darlegen6).
Durch Zufall bin ich in einer polnischen Datenbank7) auf Heiratseinträge der katholischen Pfarrei Czeszewo (Września) gestoßen, die in Krasna geläufige Familiennamen enthalten.
Es sind Namen wie Baldus, Dressler, Müller, Heidrich, Hein, Hartmann, Wagner.
Mathias Müller hieß, wie ich eingangs erwähnte, einer der beiden Wanderschulzen, die die Kolonisten im Jahre 1814 aus Polen nach Krasna führten. Die anderen Brautleute und Trauzeugen kommen ebenfalls in Krasna vor. In einem Nachbarort von Orzechowo, in Dębno hat Martinus Drezler im Jahre 1801 Catharina Chartowna/Hartmann geheiratet, Trauzeuge: Mathias Müller.
Außer den in Tabelle 1 aufgeführten Eheschlüssen gibt es in der Datenbank Poznan-project noch einige mehr mit in Krasna vorkommenden Familiennamen.
Heiraten von Krasnaer Leuten in Orzechowo | |
Catholic Parish Czeszewo (Września) Eintrag 4 / 1802 Matthaeus Miller (28 Jahre alt) und Anna Heytrych (20 Jahre alt) Trauzeugen: Mathias Baudioz (Baldus?), Francisco Budan | 05. Oktober 1802 |
Catholic Parish Czeszewo (Września) Eintrag 9 / 1803 Petrus Hartmann (22 Jahre alt) und Catharina Baltus (18 Jahre alt) Trauzeugen: Friedrich Hasenbach und Johannes Heidrich | 22. November 1803 |
Catholic Parish Czeszewo (Wrzesnia) Eintrag 2 / 1808 Adalbertus Wagner und Rosina Jakob Trauzeugen: Matheus Müller und Adalberto Wagner | 24. Januar 1808 |
Catholic Parish Czeszewo Września Eintrag 2 / 1814 Joannes Heyn und Margaretha Hartmann Trauzeugen: Philipp Hartmann und Mathias Müller | 30. Januar 1814 |
Am gleichen Ort, mehrere in Krasna vorkommende Namen! Das hat mich stutzig und neugierig gemacht.
Ich habe mir das Kirchenbuch von Czeszewo besorgt8). Es enthält ab 1800 einen eigenen Abschnitt für eine Kolonie Orzechowo.
Und siehe da: darin kommen reihenweise Taufen von Kindern mit Krasnaer Familiennamen vor.
Hier einige Beispiele: Baldus, Becker, Dressler, Müller, Heidrich, Hein, Hartmann, Ressler, Schulz, Stein, Wagner (vielleicht noch weitere, aber nicht alle Namen im Kirchenbuch sind lesbar) -s. Tabelle 2-.
Andere deutsche Namen tauchen kaum auf in der Kolonie. Bei den Einträgen ist fast immer vermerkt: „Herkunft Nassau“. Ab dem Jahr 1814 gibt es nur noch sehr wenige Einträge mit der Ortsbezeichnung Colonia Orzechowo und darunter sind praktisch keine deutschen Namen mehr. Nach 1814 wurden keine in Krasna vorkommenden Namen gefunden.
Wir erinnern uns: Die Krasnaer sind im Frühjahr oder Sommer 1814 aus Polen weggezogen und kamen im Herbst 1814 in Bessarabien an.
In einem Manifest vom 29. November 1813 hatte Zar Alexander I. Siedlern aus Polen (sogenannte Warschauer Kolonisten) angeboten, in dem von ihm dem Osmanischen Reich abgerungenen Bessarabien zu siedeln und ihnen eine Reihe von Privilegien versprochen.
Taufe Datum | Vorname | Eltern | Paten |
---|---|---|---|
1801 20. 03. | Anna\\Catharina | Johannis Heidrich/Elisabeth Baldes | Johannes Prenpf?, Catharina Junge |
23. 11. | Johannes | Martin Dressler/Anna | Franz Dressler, Anna Hartmann |
1802 09. 12. | Johannes | Peter Bekker/Anna Elisabetha | Johannes Brest, Magdalena Dobrzyka |
1803 09. 01. | Paul | Mathias Müller/Anna Maria Heydrich | Bogulus Spikart, Filippina Heidrich |
04. 12. | Christian | Johannes Haytrych/Elisabeth Hupertas? | Christian Maylinger, Elisabeth Baltus? |
27. 12. | Anna Catharina | Petri Beccer/Anna Elisabeth | Johannes Haytrych, Anna Catharina |
1804 10. 05. | Christian | Georg Wagner /Anna | Christian Schneider, Anna Maria Laux |
19. 08. | Mathias | Peter Hartmann/ Anna Gertrud Baldus/Baltys | Mathias Baldus, Christina Heytrich |
26. 08. | Elisabeth | Mathias Müller/Anna Maria Haytrych | Henricus Müller, Elisabeth Haytrych |
1805 01. 08. | Friedrich | Peter Becker/Anna Elisabeth | Friedrich Hasenbach, Anna Rosina Fry |
27. 10. | Anna Maria | Peter Hartmann/Anna? | Peter Becker, Maria Mellerowa |
19. 11. | Catharina | Joseph Wagner/Margaretha | Johann Hermann, Anna Catharina Hermann |
1806 03. 08. | Anton | Johannes Wagner/Anna Maria | Anton Hartmann, Elisabeth Heidrich |
05. 10. | Franciscus | Mathias Müller/Anna Maria | Mathias Baldus? , Eva Becker |
1807 12. 07. | Elisabeth | Martin Dreszler/Catharina | Martin Dais und Elisabeth Dais |
08. 09. | Mathias | Mathias Müller/Anna | Johannes Haytrych, Gertrud Bandis |
27. 12. | Petrus | Peter Hartmann/Anna | Mathias Müller, Catharina Jung |
1810 04. 02. | Marianna | Peter Becker/Anna geb. Hartmann | Johannes Hartmann, Anna Maria Müller |
08. 02. | Georg | Georg Wagner/Rosina Jakob | Georg Hermann?, Margaretha Harden? |
08. 07. | Anna Maria | Mathias Müller/Anna Marianna | Peter Becker, Elisabeth Becker |
1811 20. 01. | Anna Maria | Martin Dreszler/Catharina, geb. Hartmann | Mathias und Anna Maria Müller |
04. 10. | Elisabeth | Peter Hartmann/Elisabeth Baldus | Johannes Hartmann, Elisabeth Wagner |
1812 12. 05. | Rosa | Mathias Müller/Anna Maria geb. Heydrich | Mathias Baldus, Rosina Wagner |
1813 03. 01. | Elisabeth | Georg Wagner/Rosina Jakob | Johann Heidrich, Elisabeth Wagner |
04. 04. | Elisabeth | Peter Becker/Elisabeth geb. Hartmann | Junnemann, Gertrud Hartmann |
Sept. | Carlos | Johannes Heyn/Margaretha Hartmann | Carolus Heyn, Catharina Heidrich |
Noch folgende Anmerkung: Wir müssen unterstellen, daß der im eingangs erwähnten Gemeindebericht von Krasna als „Orschokowin“ bezeichnete Ort in gesprochener Version auf uns überliefert ist, was die Suche nach ihm naturgemäß erschwert, weil die korrekte Schreibweise davon abweicht.
Im Kirchenbuch von Czeszewo wird der Ort Orzechowo, wohl abhängig von grammatikalischen Erfordernissen und/oder der Laune des eintragenden Priesters in Latein z. B. auch wie folgt geschrieben:
Das klingt schon sehr nach Orschekowin.
Ich habe in Polen mehr als 10 Orte gefunden, die Orzechowo oder ähnlich heißen. Außer in den Kirchenbüchern von Czeszewo konnte ich in keinem anderen der ähnlich geschriebenen Orte Krasnaer Namen, fast nirgends überhaupt deutsche Namen finden.
Ich habe mich gefragt, wo liegt dieser Ort, kann es sein, daß spätere Krasnaer tatsächlich dort gelebt haben? Oder sind die übereinstimmenden Familiennamen und Jahreszahlen nur Zufall?
Meine Recherchen haben folgendes ans Licht gebracht: Das Gebiet, in dem wir suchen müssen, gehörte nach der Zweiten Teilung Polens von 1793 bis 1807 vorübergehend zur damaligen preußischen Provinz Südpreußen9).
Czeszewo liegt bei Wreschen (polnisch: Września) nicht weit von Posen (polnisch: Poznań). Orzechowo liegt ca. 4 km südwestlich von Czeszewo.
(Zum Vergleich: Der andere im obigen Gemeindebericht von Krasna genannte Herkunftsort Schitonitz/Sitaniec liegt gut 500 km weiter südöstlich und gehörte damals zu Österreich.)
Nachfolgende Abbildung 2 und 3 zeigen Polen mit Süd- und Neuostpreußen sowie Westgalizien, außerdem die Lage von Orzechowo.
Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts zogen spätere Krasnaer Familien aus Deutschland nach Polen:
Nun stellte sich die Frage: Haben die Preußen in Czeszewo/Orzechowo Kolonisten angesiedelt, wenn ja, woher kamen sie, wann kamen sie?
König Friedrich Wilhelm III. von Preußen siedelte seit 1800 in „Südpreußen“ auf staatlichen Ländereien und auf enteigneten polnischen Gütern über 13.000 Personen an.
Die Preußen haben auch in der Region um Posen und südlich davon, z.B. Lodz viele Kolonien mit deutschen Siedlern angelegt. Aber unsere Krasnaer gehörten nicht zu den staatlich 77 Kolonisten, jedenfalls nicht die in Orzechowo.
Neben staatlichen Koloniegründungen förderte die preußische Regierung auch die Ansiedlung von Leuten durch private Großgrundbesitzer. Einer davon war Wilhelm Friedrich Erbprinz von Nassau-Oranien10). Er war mit den Preußenherrschern verwandt und wurde vom preußischen König gefördert. Er kaufte 1793 die Herrschaften Kiebel und Widczin in Südpreußen. 1798 erwarb er sämtliche Güter, die der Fürst Joblonowsky in dem Posener Kammerdepartement besaß, u. a. das Gut Czeszewo (Kreis Wreschen) mit den Dörfern und Vorwerken Mikuszewo, Chlebowo, Radzitowko und Orzechowo.
Er wollte auf seinen Gütern Kolonisten aus seiner Heimatregion Nassau ansiedeln. Seine Bemühungen dazu begannen 1797. Er verhandelte mit der preußischen Regierung in Berlin und der nassauischen Regierung in Dillenburg.
Damit hatte ich eine Spur gefunden, die in das Herzogtum Nassau führt. Die Nassauer Fürsten11) hatten in Deutschland viele Ländereien links und rechts der Lahn (vor allem im Westerwald bis Siegen und im Taunus bis Wiesbaden). In der uns interessierenden Zeit um 1790/1800 war der größte Teil des nassauischen Territoriums im Besitz der Fürsten von Nassau-Oranien mit Regierungssitz Dillenburg. Später ab 1815 war- wie die Karte in Abbildung 5 zeigt- das ganze Gebiet unter einer Herrschaft mit Sitz in Wiesbaden vereinigt.
Aus dem Raum Siegen-Dillenburg -Marienberg- Westerburg- Hadamar meldeten sich 1799 viele Familien auf den Aufruf des Erbprinzen zur Auswanderung nach Südpreußen. Damals herrschte große Not im hohen Westerwald.
Es gibt Listen mit den Leuten, die sich 1799 für die Auswanderung nach Polen angemeldet hatten13). Ich habe sie im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden eingesehen. Ich fand darin wieder Krasnaer Familiennamen.
In der folgenden Liste sind nur Leute mit Familiennamen ähnlich den in Krasna vorkommenden genannt.
Amt Marienberg | Amt Mengerskirchen | |
Müller Martin Büdingen | Heun Johann Theis Mengerskirchen | |
Heidrich Johannes Büdingen | Müller Johannes Büdingen | |
Baldus Theis Büdingen | Winchenbach Johann Christ Westernohe | |
Baldus Henrich Büdingen | Winchenbach Johann Jost Oberroth | |
Müller Johann Theis Zinhain | ||
Amt Rennerod | Amt Ellar | |
Wagner Johann der Jüngere Rennerod | Hartmann Johannes Dorchheim | |
Wagner Georg Emmerichenhain | Hartmann Peter Langendernbach | |
Becker Johann Emmerichenhain | Hartmann Philipp Langendernbach | |
Hoin Johannes Oberrossbach | Wingenbach Johann Jost Haussen | |
Amt Hadamar | Heun Johann Wilhelm Waldernbach | |
Winchenbach Johannes Hangenmeilingen | Becker Joseph Wilsenroth | |
Andere Ämter | Becker Wilhelm Frickhofen | |
Fischbach Johannes Klafeld | ||
Hain Johannes Herzhausen |
Bisher konnte ich erst einige in Betracht kommende Kirchen- und Familienbücher im Westerwald auswerten. Aber Baldus, Heidrich, Müller habe ich in Rotenhain bei Bad Marienberg ausgemacht, Hartmann in einem kleinen Ort Langendernbach im heutigen Landkreis Limburg-Weilburg.
Nicht bei allen, aber bei einzelnen Auswanderern habe ich in den Kirchenbüchern oder anderen Unterlagen von Westerwaldorten Hinweise auf ihre Auswanderung nach Polen gefunden.
Von mindestens einem Auswanderer aus dem Fürstentum Nassau wissen wir sogar mit Sicherheit, daß er nach Orzechowo ging. Es gibt im Hauptstaatsarchiv Wiesbaden ein Dokument, das besagt, daß Mathias Müller aus Büdingen dorthin emigriert ist14).
Den Kolonisten wurden ihre Ländereien auf den Gütern des Erbprinzen in Südpreußen im Winter/Frühjahr 1800 zugewiesen. Nicht alle wurden in Orzechowo angesiedelt. Ich sagte ja bereits, der Erbprinz hatte um Posen herum noch eine Reihe anderer Güter, die auch nicht zu der Pfarrei Czeszewo gehörten.
Viele der 1799 nach Polen ausgewanderten Familien kehrten schon nach wenigen Jahren (bis 1805/1806) enttäuscht und verarmt in den Westerwald zurück. Gut 80 Familien blieben länger. Auch einige mit in Krasna vorkommenden Familiennamen harrten aus.
Es gibt ein Dokument aus dem Jahre 1808, das dies beweist, (Archiwum Państwowe w Poznaniu 53/4823/0/3.15/280 Acta der Fürstlichen OranienNassau-Fuldaschen General Administration betreffend die Orzechower Kolonisten 1808-1811)
Die Kolonisten
bitten um Aufschub ihrer Zins-/Steuerzahlungen an die fürstliche Verwaltung
Woher nehmen wir nun die Gewissheit, daß die Leute aus Orzechowo nach Krasna gingen?
Bisher gibt es zwar keinen direkten schriftlichen Nachweis, aber sehr viele plausible Indizien:
Tabelle 4: Krasnaer Familien, die über Orzechowo nach Krasna eingewandert sind
So viel zu meinen Funden in den Archiven. Jetzt ist zu wünschen, daß Interessierte in ehemals nassauischen Territorien in Deutschland nach ihren Vorfahren suchen.
Wer die Familie Baldus sucht, hat es relativ einfach. Ihr Stammhaus steht in Bellingen/Westerwald, und es gibt den Stammbaum der Familie mit allen Familienmitgliedern vor 1720.
Anmerkung der Redaktion: