4.4 Die Reise von Polen nach Bessarabien im Jahr 1814

Auszug aus dem Krasnaer Gemeindebericht von 1848:
„Diesem Rufe (Aufruf des Zaren von 1813) folgend verließen die genannten Ansiedler – 133 Familien in armen und drückenden Umständen, aber mit Freuden einer besseren Zukunft entgegensehend ihre polnischen Ansiedlungen Orschokowin/Orzechowo und Schitanitz 1814 unter der Anführung des Mattheis Müller und Peter Becker….“
Es ist aber wohl so, dass aus vielen weiteren Orten Auswanderer beteiligt waren. Aber die beiden genannten stellten, soweit man das bisher feststellen kann, die größten Kontingente.
Die Wanderführer Mattheis Müller und Peter Becker kamen nachweislich aus Orzechowo (Orschokowin) (s. Abschnitt 2.4.2.2 Krasnaer aus Orzechowo, Dokument von 1808). Dieser Ort war nach den bisherigen Erkenntnissen der nördlichste Herkunftsort von Krasnaer Warschauer Kolonisten. Hier begannen die erste Gruppe von Weiterwanderern ihre Reise.

Im Frühjahr 1814 begann die Anwerbung und Registrierung der Interessierten. Dazu entsandte die russische Regierung eigens eine Kommission nach Polen. Sie wurde von dem russischen Staatsbeamten Krüger geleitet. Die Kommission sollte die Vorbereitungen für die Reise der Angeworbenen nach Bessarabien treffen.

Eugen Kossmann, der viel über Deutsche in Polen geforscht hat, berichtet in einem Beispiel, wie das Verfahren ablief: „Im Mai (1814) soll …ein gewisser Krüger aufgetaucht sein, der sich als Werbekommissar für nach Russland auswandernde Kolonisten ausgebe, und alle, die dahin wollten, aufschreibe…Er erklärte den Bauern…, es genüge, wenn er ihre Gesuche an den Generalgouverneur weiterleite, dann seien ihnen die russischen Einreisepässe gewiss.“

Besagter Krüger war nicht nur Werber, er hatte auch die Oberleitung für die Transporte.

Die Kolonisten hatten sich an bestimmten von den russischen Werbern vorgegebenen Sammelpunkten einzufinden, z.B. in Lodz und Warschau. Hier wurden sie mit Instruktionen sowie Reisepapieren versorgt und in Kolonnen eingeteilt.

Es ist nicht direkt überliefert aber gut vorstellbar, dass im Raum Zamość auch so ein Sammelpunkt vorgesehen war, denn es sind allein 73 deutsche Familien bekannt, die 1814 aus dieser Region nach Russland zogen, viele davon nach Krasna.

Albert Mauch, er war Leiter der Lehrerbildungsanstalt in Sarata, sagt: „Meist hatten sich die deutschen Auswanderer schon in der Heimat nach Herkunftsorten, Verwandtschaft, Glaubensbekenntnis und nach gegenseitigen Sympathien zusammengefunden. Das war ganz nach dem Wunsche der russischen Regierung…,“ weil dadurch das Konfliktpotential gemindert wurde.

Die Leute begaben sich in Gruppen/Abteilungen auf den Weg, nachdem sie einen Führer, den Transport- oder Wanderschulzen, aus ihrer Mitte gewählt hatten. Die Wanderschulzen dienten als Führer, Wegweiser und Beschützer. Für Krasna werden die Wanderschulzen Peter Becker und Mathias Müller genannt.

Eine Gruppe der späteren Krasnaer kam nachweislich aus dem Raum Zamość (aus Sitaniec/Schitanitz), eine andere Gruppe aus dem Posen-Wreschen und eine aus dem Raum Plock-Warschau. Vielleicht führten die Russen sie unterwegs zusammen.

Allerdings: Größere Züge (bis 140 Familien) pflegten in Begleitung russischer Beamten zu ziehen. Von solchen ist bei den Krasnaer Kolonisten aber nicht die Rede. Immerhin sollen es insgesamt 133 Kolonistenfamilien gewesen sein, die sich nach Krasna aufmachten. Kann man schlussfolgern, dass sie nicht in einer Gruppe zogen, sondern in mindestens zwei oder drei Abteilungen (schließlich fanden auch die Ansiedlungen in Krasna in drei Schüben statt-1814, 1815, 1816-)?

Zumindest bei allen Nachbarkolonien Krasnas, die 1814 – 1816 besiedelt wurden, kamen die Ansiedler in mehreren Zügen, z.B.

Die Auswanderer begannen wohl im Sommer 1814 ihre beschwerliche Reise nach Bessarabien. Sie benutzten den Landweg. Laut Krasnaer Gemeindebericht 1848 erfolgte die Reise „teils auf eigenen ärmlichen Fuhrwerken, teils auf gemieteten Wagen. Viele kamen auch zu Fuß.“

Abb. 23: Einachsiger Leiterwagen

Für den langen und mühseligen Weg standen keine komfortablen und effizienten Verkehrsmittel zur Verfügung. Zu jener Zeit gab es keine gepflasterten Straßen und keine Eisenbahnen, erst recht kein Automobil.

Sie kamen in Tagesstrecken von ca. 20 – 25 km nur mühsam voran, lagerten oft im Freien, fern von jeder Ortschaft. Straßen nach unseren Vorstellungen gab es nicht, die Wege waren ausgefahren. Kein Navigationssystem, sondern einfache Wegebeschreibungen führten sie an ihr Ziel. Wir können uns heute wohl gar nicht mehr richtig vorstellen, wie strapaziös und hindernisreich diese Reise war.

Nach verschiedenen Quellen führte die Reiseroute auf Anordnung der russischen Regierung von Warschau und anderen Orten in Polen zur russischen Grenze ins wolhynische Gouvernement. (Es grenzte an das polnische Gouvernement Lublin, in dem viele spätere Krasnaer in der Region Zamość zu Hause waren.) Dort wurden die Leute von russischen Behörden empfangen und weitergeleitet.
Laut Krasnaer Gemeindebericht von 1848 kamen die späteren Krasnaer bei Utschiluk am Bug über die Grenze. Dieser Grenzübergang wird auch im Gemeindebericht der Nachbarkolonie Wittenberg genannt. 1814 bildete der polnische Bug die Grenze zwischen dem Herzogtum Warschau und dem zu Russland gehörenden Wolynien. Der Ort heißt heute ukrainisch Устилуг; russisch Ustilug, polnisch Uściług, liegt auf der Ostseite des Bugs und gehört zum ukrainischen Oblast Wolhynien.

Von dort ging es weiter nordöstlich entlang der Karpaten über Podolien zum Fluss Dnjestr nach Tiraspol. Der schon genannte Albert Mauch meint „Die Großväter der bessarabischen Kolonisten aus Polen kamen wohl den Weg über Brody, Mogiljow am Dnjester, Balta, Tiraspol, Bender.“

Nach Landkarten im Internet ist heute der kürzeste Fußweg über die genannten Orte von Sitaniec bis Tiraspol 840-850 km. Bei einer Tageskilometerleistung von 20 km hätte man für die Strecke ohne Pause 42 Tage benötigt. Mit Pausen sind wohl knapp 2 Monate die untere Grenze. Die Entfernung Orzechowo -Tiraspol beträgt sogar über 1300 km.

Abb. 24: Der Verlauf der Reise von Polen nach Bessarabien
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Karte_Dnister.png
Maximilian Dörrbecker (Chumwa) -CC BY-SA 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)

Unter vielen Mühsalen, Leiden und Entbehrungen waren unsere Auswanderer im September 1814 in Tiraspol angelangt. Die Reise endete zunächst dort. Hier wurden alle Formalitäten erledigt, der Siedlungsplatz angewiesen und die vorläufige Unterbringung organisiert.