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Mit dem Gesetz vom 4. Juni 1871 (Angleichungsgesetz) wurde die historisch entstandene Sonderverwaltung der Kolonisten aufgehoben. Jetzt wurde auch diese Bevölkerungsgruppe der allgemeinen russischen Staatsverwaltung unterstellt und dementsprechend dem Innenministerium (vorher dem Reichdomänenministerium) zugeordnet.
⇒ s. Ziff. 2.3 Die Veränderungen ab der zweiten Hälfte des 19. Jh. (etwa 1860-1918)
Wichtigste Neuerungen für die deutschen Kolonisten waren:
Die mit der „Verordnung über die Landständischen Gouvernements- und Kreisbehörden vom 01. Januar 1864“ eingeführten Selbstverwaltungseinrichtungen auf Kreis- und Gouvernementsebene wurden als „Semstwo“ bezeichnet, das bedeutet Landstand oder Landschaftsvertretung. Sie war in ihrem Aufgabenbereich relativ unabhängig von den regulären Staatsbehörden. Ihre Organe waren
Die Organe der Semstwoverwaltung (Landschaftsverwaltung) wurden nach einem komplizierten Zensussystem gewählt, auf das hier nicht näher eingegangen wird. Das entscheidende Gewicht hatten die Großgrundbesitzer. Aber immerhin wirkten Vertreter der Bauern an der Verwaltung mit. Für die Gemeinden um Tarutino, damit auch für Krasna, war von 1881-1916 Andreas Widmer Mitglied im Akkermaner Semstwo (Kreis-Landamt)1).
In den Jahren bis 1890 hatte der Semstwo recht umfangreiche Kompetenzen. Es war die einzige lokale Behörde für Schulwesen, Landwirtschaft und bäuerliche Angelegenheiten, Verkehr und Post, Gesundheitspflege und andere wichtige Fragen. Der normale Kolonist kam kaum mit regulären staatlichen Behörden in Berührung, weil praktisch alles, was ein Bauerndorf betraf, von dem Semstwo abgedeckt wurde.
Der Semstwo erhob auch Steuern zur Erhaltung seiner Einrichtungen. Und da ergab sich denn nicht selten die Erscheinung, daß die Deutschen über die Hälfte der Kosten aufbringen mußten für Einrichtungen, die nur den russischen Dörfern zugute kamen, wie z.B. bei den Schulen, wobei die Deutschen noch ihre eigenen Schulen ganz aus selbst aufgebrachten Mitteln unterhalten mußten.
Die relative Selbständigkeit der Semstwo-Organe als staatlich-kommunale Körperschaften neben dem allgemeinen staatlichen Verwaltungssystem führte zu Kompetenzstreitigkeiten innerhalb der Verwaltung. Nicht zuletzt deshalb wurden nach einigen Jahren (1890) die bis dahin recht breiten Zuständigkeiten des Semstwos beträchtlich eingeschränkt. Das galt besonders auch für die Wahl. Die Bauerngemeinden durften nun nur noch Kandidaten vorschlagen. Der Gouverneur ernannte daraus die Semstwomitglieder.
Dennoch war der Semstwo für Krasna weiterhin von Bedeutung (s. Ziff. 5.2 Die Schule in Krasna), und zuallerletzt wurde auch noch seine demokratische Legitimation gestärkt; E. Ruscheinsky: „…im Jahre 1917, nach dem Sturz des Zaren, wurde das Gesetz der Semstwo auf breiter demokratischer Grundlage aufgebaut. Jetzt überwachte der Staat bloß die Legalität der Semstwo-Beschlüsse, ohne sich in die Tätigkeit der ordentlichen Verwaltung einzumischen.“ Diese Regelung galt allerdings nur für kurze Zeit, denn nach der Übernahme Bessarabiens löste die rumänische Regierung die Semstwo-Institutionen mit Dekret vom 04. 10.1918 förmlich auf.
Nachstehend wird der Aufbau der russischen Verwaltung vereinfachend zusammengefaßt, wie er sich für Krasna nach 1871 darstellte:
Bei allem, was über die neuen Vorschriften hier dargestellt wird, muß man im Hinterkopf haben, was Hettner3) Ende des 19. Jahrhunderts über die russische Verwaltung geschrieben hat. „Auf dem Papiere stehen die vortrefflichsten Verordnungen; aber sie werden nicht ausgeführt. Gewiß sind eine ganze Anzahl tüchtiger Männer darunter, aber dem Beamtenstand im ganzen sind nach allgemeinem Urteil geringe Arbeitsamkeit und Zuverlässigkeit, Neigung zur Gewaltsamkeit, Bestechlichkeit und Unehrlichkeit in hohem Grade eigen, welch letztere Eigenschaften allerdings in der sehr schlechten, für die Bestreitung des Lebensunterhaltes meist nicht ausreichenden Besoldung eine gewisse Entschuldigung finden.„
Dies wirkte sich naturgemäß auch bis in die deutschen Dörfer aus. Nicht alles lief genau nach dem Buchstaben der geschriebenen Gesetze ab. Nicht zuletzt deshalb konnten sich die Deutschen trotz der tiefgehenden Veränderungen nach 1871 Freiräume auf der Ebene der Selbstverwaltung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs erhalten oder erkaufen.